Die Zukunft der Gottesanbeterin

von: Jürgen Kaizik

Braumüller Verlag, 2015

ISBN: 9783992001460 , 292 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Die Zukunft der Gottesanbeterin


 

2


WAS LEGUAN UMGAB, war etwas absolut Reales. Nicht der Hauch eines Zweifels trübte dessen Gegenwart. Es war da. Dieses Ding, das er so lange, so peinigend sehnsuchtsvoll, so vergeblich wie unermüdlich seit je gesucht hatte: die unvermittelte, echte Wirklichkeit. Sie hatte ihn heimgesucht, sie umgab ihn ringsum mit gewaltiger Präsenz, sie, das einzig Reale. Alles strahlte in blendendem Weiß, es brannte glühend in seinen Augen. Auch der Schmerz bezeugte, dass da keine Täuschung möglich war. Leguan ballte seine Faust und stieß sie mit all seiner Kraft dem Ungeheuer ins Maul. Es war weich und nachgiebig, es tat sich auf, nahm ihn in Empfang, saugte ihn ein. Kaum war sein rechter Arm verschlungen, als der Boden unter seinen Füßen nachgab. Etwas stülpte sich auf, presste sich an ihm entlang nach oben. Das Reale war gefräßig, es fraß ihn auf. Noch wollte er schreien, da war das Reale schon über ihm, war in ihm, war er selbst geworden.

„DAS WIRD NICHT GUTGEHEN.“ Der Diensthabende gab sich keine Mühe, den Klang seiner Stimme den klinischen Erkenntnissen anzupassen. Die Krankenschwester auf seinem Schoß nickte. Auf den Monitoren waren die zackigen Kurven zu einer trostlos flachen Linie zusammengefallen. Der Arzt richtete sich auf und Schwester Eva kam auf den eigenen Beinen zu stehen. Sie strich sich den Rock glatt, während er halb aufgerichtet durch das Beobachtungsfenster hinüberlugte zu dem bewegungslos hingestreckten Körper Leguans. Hinter dem medizinischen Equipment war nicht viel zu erkennen, aber es genügte.

„Hol Paul“, sagte er zufrieden, legte die Hand auf ihren Hintern und schob sie zur Tür.

„Er soll sich das selbst ansehen. Immerhin ist es sein Patient.“

Paul war gleich nach der Operation zu einer improvisierten Pressekonferenz geeilt. Als Eva angerannt kam, hatte er den wartenden Journalisten bereits freundliche Prognosen für den berühmten Patienten geliefert, verpackt in die neutrale Sprache ärztlicher Bescheidenheit. Eva riss einem Berichterstatter die rauchende Zigarette aus der Hand und warf sie in eine Leibschüssel, in der sie zischend erlosch. Sie kämpfte sich zu ihrem Chef durch. Der unterbrach mitten im Satz, als er das kleine böse Lächeln in den Augen seiner jungen Mitarbeiterin erkannte.

VOR ALLEN ÜBERSINNLICHEN Eindrücken geschützt, lag die Stadt in ihrer vormittäglichen Dunstund Schallglocke. Die unheimliche Sternentiefe über ihr blieb im trüben Tageslicht so unsichtbar wie das kriechende Getier unter dem Asphalt. Wie auf einer zweidimensionalen Spielfläche lag sie. Der Einsatz war gemacht, nichts ging mehr. Die Kugel rollte.

Medizinische Fachbuchhandlungen öffnen gewöhnlich erst nach zehn Uhr vormittags. Ungeduldig rauchend lief Max vor den Auslagen auf und ab, mehrfach hatte er mit platt gedrückter Nase versucht, ins Innere zu spähen, vergeblich. Die Regale verloren sich im Halbdunkel. Endlich flammten die Neonröhren auf. An der aufschließenden Verkäuferin vorbei betrat Max mit knappem Gruß das Geschäft. Für diese war der eilige Schatten beinahe zu flüchtig gewesen, aber ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. Ein Unheil verheißendes Lächeln kräuselte bereits ihre Lippen, als sie dem frühen Kunden langsam nachging. Zielsicher hatte Max bereits die vorhandenen Taschenbücher der freudschen Gesamtausgabe entdeckt, als er die Schritte der Angestellten hinter sich hörte.

„Gibt es zur Analyse bipolarer Störungen nichts Neueres?“ Seine Frage war in solcher Umgebung nicht unpassend und er durfte mit professioneller Auskunft rechnen.

„Wo warst du die letzten sieben Jahre?“

Als es Max dämmerte, dass die Frage offenbar ihm persönlich galt, drehte er sich wie ertappt um. Ihr Gesicht kam ihm diffus bekannt vor, aber der Gedächtnischeck ähnelte einem Glücksspiel. In vorsichtig fragendem Tonfall versuchte er es trotzdem.

„Judith …?“

„Chris!“, bellte sie zurück und drehte ab. Unbelehrt und mit schlechtem Gewissen klaubte Max hastig einige Titel aus dem Regal mit Analysetechniken zusammen und legte sie vor der, die sich Chris nannte, auf den Ladentisch.

Sie sortierte seine Bücher nach der Größe.

„Genügt ‚Fachliteratur‘ oder soll ich alle Titel einzeln aufführen?“

„Es tut mir leid, aber ich kann mich wirklich nicht an dich erinnern“, sagte er, statt auf ihre Frage einzugehen. Hinter ihren Brillengläsern, in denen sich die parallelen Stäbe der Leuchtstoffröhren spiegelten, schimmerte es feucht.

„Wir saßen ein Semester lang nebeneinander im Seminar über ‚Techniken der Übertragung und Gegenübertragung‘. Anschließend schlossen wir uns in dem Besprechungszimmer ein, wo die Analysecouch stand …“

„Jetzt weiß ich es wieder!“

Er meinte, irgendwo innen ein wärmendes Leuchten zu fühlen, das aus jenen fernen Jahren ins Heute herüberstrahlte, aber es kam nicht aus dem grauen Gesicht vor ihm, das sich nun etwas zu tief über den Computer beugte, während der Drucker surrend die Rechnung ausspie. Es war seine Vergangenheit, die unvermutet aufglimmte wie ein verstecktes Glutnest, die Verheißung eines Anfangs, den er fast vergessen hatte. Als er schnell die Bücher an sich nahm, zahlte, auf jegliche Verpackung verzichtete und eilends den Laden verließ, meinte er, ihn wieder so lockend wie damals in den Händen zu halten, als wäre nichts, was einmal gewesen war, je gänzlich verschwunden.

PAUL WEIGERTE SICH, die Diagnose „hirntot“ offiziell zu bestätigen. Die Sauerstoffsättigung in den Gefäßen spräche dagegen. Er knallte die Tür des Ärztezimmers hinter sich zu, warf sich, wie er war, auf die Liege und verfiel in einen traumlosen Tiefschlaf. Eine Stunde später weckte ihn ein dringliches Klopfen. Der Diensthabende stand in der offenen Tür und wartete, bis Paul seine Augen scharf stellte.

„Der Leguan ist wieder da.“

Wenige Minuten später füllte das zuständige Personal den Überwachungsraum der Intensivstation. Leguan war zweiundsiebzig Minuten lang weg gewesen. Das stand außer Frage. Jetzt zeugten die Monitore ebenso unmissverständlich von inneren Aktivitäten.

„Da bin ich aber gespannt, was er uns von seinem Ausflug zu erzählen haben wird.“

Der Krankenhausgeistliche, den Eva nach Pauls Abgang herangeschleppt hatte, kehrte unverrichteter Dinge zu seinem Mittagessen zurück.

„Ein Sieg des Geistes über die Materie“, murmelte er im Gehen, aber niemand hörte ihm zu. Die anderen diskutierten über die Befunde. Was sie nicht sahen, war, wie Leguan rhythmisch seinen linken Zeigefinger bewegte, als wollte er dringend etwas sagen.

IN DORAS BIBLIOTHEK stand eine Couch, die in etwa den Erwartungen einer anspruchsvollen Analysepatientin entsprechen mochte. Sie war schwerer, als sie aussah, und es verursachte einige Mühe, sie aus der Bibliothek, durch das Speisezimmer bis in den Salon zu transportieren. Auf dem Teppich blieb ein schattiges Rechteck aus dunklem Staub zurück, gegen das Max wenig später mit dem Staubsauger anrückte. Dabei entdeckte er einen Ring, der wohl Jahre oder länger dort gelegen sein mochte. Unzweifelhaft ein Herrenring mit einer blauen Intarsie, die eine antike Szene darstellte. Max’ Kenntnisse der griechischen Mythologie waren beschränkt, aber er schob sich den Ring auf einen Finger der linken Hand. Er passte. Es sah geheimnisvoll aus, sogar ein wenig verwegen. Im Speisezimmer lief ein kleiner, alter Fernsehapparat, der Max als Abwehrzauber gegen die Stille der verlassenen Wohnung diente. Als Max den Raum abermals durchquerte, blickte ihm ein bekanntes Gesicht aus dem Bildschirm entgegen.

„… Prof. Dr. Leguan, Präsident der Wiener Freudgesellschaft und Vorsitzender des Ethikrates ein heimtückisches Attentat verübt wurde. Der oder die Täter haben Augen und Gesicht des Wissenschaftlers mit Säure verätzt. Möglicherweise sind auch Kehlkopf und Lunge geschädigt. Der Zustand des Opfers ist nach wie vor kritisch. Noch vor zwei Tagen hat Leguan in einem Interview mit dem ORF den jüngsten Mordfall in der Wiener Innenstadt kommentiert. Ob das Säureattentat mit diesem spektakulären Verbrechen zusammenhängt, ist zurzeit noch völlig unklar. Allerdings laufen die Ermittlungen in alle Richtungen …“ Bis Max in der Lage war, die Zusammenhänge richtig einzuordnen, hatte er bereits mehrere Werbespots über sich ergehen lassen, ohne etwas von diesen zu bemerken. Er schaltete das Gerät aus und dachte nach. Auf dem Tisch lagen die Bücher, die er vormittags gekauft hatte: „Bruchstücke einer Hysterienanalyse“, „Teufelsneurose“, „Das Ich und das Es“, „Die Traumdeutung“. Mechanisch las er die Titel. Der Bleistift, mit dem er sich bereits einige Textstellen angestrichen hatte, fiel zu...